Letzte Aktualisierung: Juni 2018

Auf dieser Seite:

  • „Neue Dimension von Öffentlichkeit“
  • Es geht um Verwerten, nicht Vergessen
  • Der Medienpranger parallel zum Justizverfahren
  • „Dauernde Abrufbarkeit“
  • Archivnachschreibung
  • Medienschaffen ist nicht Wissenschaft

„Neue Dimension von Öffentlichkeit“

„Das Internet hat eine neue Dimension von Öffentlichkeit geschaffen: Ein paar Klicks, und schon erfahrt man mehr über eine Person, als man eigentlich herausfinden wollte“ (Regula Vogt-Kohler in Plädoyer 1/12, S. 76). Die Autorin weist darauf hin, dass ins weltweite Netz auch Gerichtsurteile gelangen, die noch aus Zeiten stammen, als das Bundesgericht seine Urteile durchwegs mit Namen veröffentlichte (bis 1986). Mit Bezugnahme auf Bundesgerichtsentscheide (BGE 133 I 106 sowie Urteil IB_235/2011) wird aufgezeigt, dass die Anonymisierung ein Balanceakt ist, ein Balanceakt zwischen Persönlichkeitsschutz und Transparenz der Gerichtsentscheidfindung. Nicht anonymisiert werden vom Bundesgericht namens- und markenrechtliche Fälle, Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte.  In Fällen, in welchen Kantone oder gar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Urteile nicht anonymisiert haben, soll der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte Thür empfohlen haben, bei den zuständigen Gerichten oder auch bei Suchmaschinenbetreibern die Anonymisierung zu verlangen.

Es geht um Verwerten, nicht Vergessen

Im Zusammenhang mit der Datenaufbereitung durch Suchmaschinen ist immer wieder von einem 'Recht auf Vergessen' die Rede. Dieser Begriff führt zu Missverständnissen, müsste im Grunde genommen als Recht auf Nicht-Weiterverbreitung daher kommen. Es geht um das Verwerten, nicht um das Vergessen. Denn ein Vergessen gibt es im Zeitalter des Computers nicht, und könnte auch nicht justiziabel durchgesetzt werden. Umso wichtiger ist die Nachschreibung von überholtem Datenmaterial, die Berichtigung und allenfalls die Nichtverwertung, bzw. Sperrung von Datenbeständen. Das Recycling, die Wiederaufbereitung von zurückliegenden Negativ-Informationen, kann unrechtmässig sein. Dabei sind mehrere Kategorien zu unterscheiden:

  • Das Recht, nicht nach vielen Jahren noch mit Missetaten oder Fehltritten öffentlich in einen Zusammenhang gebracht zu werden (siehe dazu Das Recht auf Vergessen: Beiträge von Bruno Glaus in medialex 2004/04 S.81ff. „Das Recht auf Vergessen und das Recht auf korrekte Erinnerung“ und medialex 2008/04 „Nachführungs- oder Säuberungspflicht in Archiven?");
  • Das Recht, in einem laufenden Verfahren nicht vor einer rechtskräftigen Verurteilung an den Pranger gestellt zu werden (vgl. „Behring“-Urteil des Bundesstrafgerichts vom 20.06.2008, BB_2008_20);
  • Das Recht, abrufbares Informationsmaterial in Datenbanken mit aktuellen Nachschreibungen, den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen (vgl. dazu: Gericht ordnet erstmals Eingriff in Mediendatenbank SMD ein, SDA Meldung vom 21.01.2011, ganzes Urteil veröffentlicht in: medialex 1/2011).

Der Medienpranger parallel zum Justizverfahren

Zu einem unerträglichen und häufig auch persönlichkeitsverletztenden Ergebnis können insbesondere die mittels online-Medien und Suchmaschinen aufbereiteten Sündenregister führen, welche über Jahre während laufenden Verfahren abrufbar sind (Stichwort: „Weitere Filmberichte über…“, „X.Y. rausgeworfen“, „Prügelanzeige gegen…“, „sexueller Übergriff von ..?“. Da es sich hier meist um besonders schützenswerte Personendaten handelt, können Betroffene ein berechtigtes Interesse haben, Mutmassungen und Massierung von Mutmassungen zu unterbinden. Dies umso mehr, als die abrufbaren Meldungen selten deutlich auf den Stand des Verfahrens und die Unschuldsvermutung hinweisen. Um zu beurteilen, ob eine Datenbearbeitung über eine Person persönlichkeitsverletzend ist, muss auf die Gesamtdarstellung in Text, Bild und Grafik abgestellt werden („Cromme un parfum des années 1930“, BGE 6B_143/2011 in sic! 1/2012 S.18 ff.). Sehr oft steckt bereits im einzelnen archivierten Bericht ein „verbaler Overkill“. Diesem „Overkill“ wird durch die Sammlung und Aufbereitung des Archivmaterials in Online-Medien eine „neue Dimension von Öffentlichkeit“ verschafft. Diese neue Dimension von Öffentlichkeit kann den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzen. Das aufbereitete Datenmaterial wird – in einem Parallelverfahren der Medien zu den staatlichen Untersuchungsverfahren - zum neuzeitlichen Pranger, zum Medienpranger. Auf dieser Ebene wird sich die These des Wissenschaftlers Roy Amara eindrücklich bestätigen: „We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run“.

„Dauernde Abrufbarkeit“

Es stellt sich unter diesen Gesichtspunkten die Frage, ob die Überlegungen des Bundesstrafgerichts im erwähnten Fall „Behring“ (Urteil des Bundesstrafgerichts BB_2008_20 vom 20.06.2008 ) zur Webseite der Staatsanwaltschaft nicht auch für private Websites und Suchdienste gelten müssten:

„Unter dem Aspekt des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes stellt sich die
Frage nach der gewählten Form der Publikation. Die Orientierung der Öffentlichkeit
per Internet richtet sich einerseits (potentiell) an ein weltweites
Publikum. Mehr ins Gewicht fällt bei der Verhältnismässigkeitsprüfung jedoch
andererseits das Fortbestehen der Orientierung auf dem Internet. Die
angefochtene Orientierung ist auch zum jetzigen Zeitpunkt immer noch unter
der Rubrik „Aktuell“ auf der Website der Beschwerdegegnerin zu finden.
Die Website der Beschwerdegegnerin umfasst zudem auch ein Archiv, in
welches Pressemitteilungen und andere Orientierungen nach einer gewissen
Zeit verschoben werden. Unter anderem lassen sich dort immer noch
das selbe Strafverfahren betreffende Orientierungen vom Dezember 2005
und vom Februar 2007 finden, welche in ihrem Betreff den Namen des Beschwerdeführers
ebenfalls ausdrücklich nennen. Aufgrund des grossen potentiellen
Publikums solcher Mitteilungen und der Perpetuierung der Information
durch deren dauernde Abrufbarkeit werden die fraglichen Mitteilungen
mit Beendigung des vorliegenden Strafverfahrens vom Internet zu entfernen
oder mindestens zu anonymisieren sein, um keine unverhältnismässige
Beeinträchtigung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers zu bewirken."

Art. 17 der Verordnung des Europäischen Parlamentes und des Rates garantiert den Betroffenen das Recht "vergessen zu werden" sowie das Recht auf Löschung bzw. Unterlassung der Verbreitung sensibler Daten (EU Datenschutz-Grundverordnung, noch nicht in Kraft/ Stand Juli 2012).

Archivnachschreibung

Die Notwendigkeit der Archivnachschreibung ist in weiten Kreisen unbestritten. Denn im IT-Zeitalter gibt es kein Vergessen. Es geht um die Qualitätssicherung beim Wieder-Verwerten. Und diese liegt auch im Interesse von recyclierenden Medienschaffenden (vergl. medialex 4/08 S.199 „Nachführungs- oder Säuberungspflicht in Archiven?“ Stellungnahme des Presserates 29/2011). Mit einem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts Luzern-Land vom 26. November 2010 wurde der Anspruch auf „Richtigkeit in der Zeit“ und die damit verbundene Nachschreibepflicht auf nationaler Ebene erstmals gerichtlich bestätigt (medialex 1/11). Archive sollen nachgeschrieben werden, wenn das überwiegende persönliche Interesse eines Betroffenen das verlangt: Es bedarf einer Güterabwägung.
Hat ein Verletzter gar Anspruch auf Löschung oder Vernichtung des corpus delicti. Ja, entschied das Züricher Handelsgericht mit Urteil vom 22.04.2013 (HG110011, "Aegis"). Es qualifizierte eine eine Reihe von Aussagen der SonntagsZeitung und des Tages-Anzeigers über die Sicherheitsunternehmung Aegis als herabsetzend und unlauter (UWG). Zwar wies es Schadenersatzforderungen der AEGIs ab (30 000 Fr. + 10 000 Pfund Sterling), doch verfügte das Gericht ein Wiederholungsverbot und die Löschung in den Archiven – wie 15 Jahre zuvor das Kreisgerichts See Gaster in einem rechtskräftigen Entscheid gegen Ringier. In einem kunstrechtlichen Kontext sanktionierte das Bundesgericht die Konfiszierung von (angeblich) persönlichkeitsverletzenden Bildern des Malers Heinz Julen (kritisch zu den Entscheiden 5C.26/2003 und 5P.40/2003 Peter Studer in medialex 3/03, S. 177).
Der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16.07.2013 (Węgrzynowski und Smolczewski gegen Polen, Appl. no. 33846/07) und der Entscheid des Europäischen Gerichtshofes, EuGH C-131/12 ("Google"-Entscheid zum Recht auf Vergessen bzw. Löschung der Verlinkung) haben neue Akzente gesetzt. Solange es allerdings das mildere Mittel der Berichtigung, des Bestreitungsvermerkes oder der Nachschreibung gibt und die Persönlichkeitsverletzung relativiert bzw. berichtigt werden kann, ist die völlige Löschung im Internetarchiv unverhältnismässig. Dem Recht auf Vergessen steht das Recht auf korrekte Erinnerung gegenüber (siehe Glaus in medialex 4/04, S.81). Damit schreibt der EGMR seine Praxis im Entscheid Times United Ltd vs. United Kingdom vom 10.03.2009 fort, wo er zur korrigierenden Anmerkung in Archiven ausführte: „Where it is known that archive material is or may be defamatory, the attachment of an appropriate notice warning against treating it as the truth will normally remove any sting from the material.” Den Einwand der Zeitung, selbst dies sei unverhältnismässig, wies das Gericht schon damals zurück. Eine kurze Klarstellung müsse allerdings genügen, eine vollständige Darlegung des gesamten Sachverhaltes sei nicht gefordert. Im Polen-Entscheid hatten die Anwälte – fahrlässig – nur die Löschung, nicht – eventualiter - auch die berichtigenden Anmerkung verlangt.
In beiden erwähnten Entscheiden hob der EGMR nicht nur die „watchdog“-Funktion der Medien hervor, sondern auch „the substantial contribution made by Internet archives to preserving and making available news and information“, anderseits aber auch dessen „risk of harm“. Deshalb sei in diesem Spannungsfeld ein Bestreitungsvermerk (Gegendarstellungsvermerk) schon im Verlauf eines Gerichtsverfahrens kein unzulässiger und unverhältnismässiger Eingriff in die Pressefreiheit. Hingegen sei unter den besonderen Umständen des Einzelfalles eine Löschung des Berichts auf Internet nicht mit der Informationfreiheit zu vereinbaren. Dabei würdigte der Europäische Gerichtshof die Tatsache positiv, dass die Vorinstanz dem Medium nahegelegt hatte, den verletztenden Bericht mit einem (richtigstellenden) Kommentar zu versehen. Das Gericht hielt abschliessend fest, dass eine Löschung nicht in Frage kommen könne, solange es mildere Mittel gebe, die Rufschädigung zu beseitigen.
Festzuhalten ist, dass die Entscheidung wie immer“unter den im Einzelfall gegebenen Umständen“ fiel. Gegenstand des Löschungsbegehrens waren kritische Berichte über zwei polnische Anwälte, welchen in (seriösen) journalistischen Recherchen vorgeworfen wurde, mit dubiosen Geschäften von Politikern viel Geld verdient zu haben. Bei einem schwerwiegend verletzenden, völlig tatsachenwidrigen Bericht kann die Löschung nach hier vertretender Auffassung verhältnismässig sein, weil erfahrungsgemäss selbst mit einem Berichtigungsvermerk immer „etwas hängen bleibt“. In gavierenden Ausnahmefällen müsste die Interessengüterabwägung des EGMR zugunsten der Löschung ausfallen (siehe auch Kommentar von Dr. Bruno Glau in medialex 4/13, S. 178 ff.).

Medienschaffen ist nicht Wissenschaft

Im Spannungsfeld von Vergessen und Erinnern sind auch die Archiv- und Öffentlichkeitsgesetzgebungen des Bundes und der Kantone von Bedeutung, vor allem dort, wo aus journalistischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen Historie aufgearbeitet und ausgewertet werden soll (siehe dazu BGE 127 I 145, "Wottreng", im Fall "Irniger" (BGE 109 II 359) hatte das Bundesgericht „abgesehen von Ausnahmefällen“ dem Medienschaffenden die höheren Weihen der Kunst und der Wissenschaftlichkeit abgesprochen.

 Lesetipp: 


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